Direkt zum Hauptbereich

Christoph Simon, Spaziergänger Zbinden

"Meine Damen und Herren, haben Sie sich schon einmal vor der eigenen Dumpfheit gefürchtet? Entweder Sie sind nicht dumpf, oder Ihre Dumpfheit schützt Sie vor der Furcht vor der Dumpfheit."

Christoph Simon: Spaziergänger ZbindenDurch die Indiebookchallenge, die in diesem Jahr zum ersten Mal im Anschluss an den Indiebookday begann und in deren Verlauf ein Jahr lang pro Woche Bücher aus unabhängigen Verlagen gesucht, gelesen, in den sozialen Netzwerken vorgestellt werden sollen, welche einem wöchentlich wechselnden Motto entsprechen. Es gab schon #blauesBuch, #Hotelbuch und viele andere. Und dann gab es #Liebesroman.

Manchmal zeige ich auf Instagram ein oder mehrere Bücher, die zu dem Motto passen. Öfter durchforste ich meine Instagramseite nach interessanten Büchern, die andere posten. Dabei kam ich zum Spaziergänger Zbinden. Und ich muss das noch einmal wirklich ganz laut sagen, wie toll ich diese Indiebookchallenge finde, weil sie mir im Grunde jede Woche spannende Bücher zeigt und auch so viele Verlage, kleine, unabhängige, die extrem tolle Programme haben und auf die ich sonst nicht so schnell aufmerksam geworden wäre.

Ich traf also Lukas Zbinden. Einen wunderbaren älteren Herrn von 87 Jahren, der in einem Schweizer Seniorenheim lebt und dessen Leidenschaft das Spazierengehen ist (und auch das Erzählen). An seiner Seite befindet sich der neue Zivildienstleistende Kâzim und dieser, sowie mit ihm wir, bekommt praktisch die gesamte Lebensgeschichte von Herrn Lukas Zbinden zu hören und alle Gründe, die für das Spazierengehen sprechen, sowie alle Einsichten über das Leben, die man im Grunde, so Zbinden, nur haben kann, wenn man spazieren geht. Nebenbei stellt er Kâzim die anderen Bewohner, denen man auf den Treppen, dem Hof und den Gängen des Heims beim Rundgang begegnet, vor und erzählt ihm die Liebesgeschichte mit seiner Frau Emilie, die ihn so viele Jahre auf seinen Spaziergängen und im Leben begleitet hat.
"Meine Frau war eine durch und durch intuitive Spaziergängerin. Sie können sich keine nervenaufreibendere Tätigkeit vorstellen, als jene, die Begleitung einer intuitiven Spaziergängerin zu sein."
Die Geschichte ist wunderschön, so dass einem manchmal fast die Tränen kommen. Die Art, wie Zbinden Emilie schildert, auch und gerade in ihren Unterschiedlichkeiten zu ihm, ist so voller Ehrfurcht und Respekt. Das hat mich sehr berührt und mir noch einmal vor Augen geführt, was Liebe ist. Ich habe in diesem Buch auch viel darüber gelernt, was Altern bedeutet.

Lukas Zbinden war Lehrer und von daher stammt vermutlich seine Leidenschaft fürs Referieren. Er kann es aber auch. Das kleine Büchlein umfasst nur 186 Seiten, aber es ist voller Lebensweisheit, Klugheit und philosophischer Einsichten. Und es ist voller Liebe.
Ein wunderbares Buch, das durchgängig in wörtlicher Rede geschrieben ist. Herr Lukas Zbinden erzählt. Die Antworten oder Fragen der anderen können wir nur ahnen. Sie spielen auch keine Rolle. Denn wichtig allein ist Lukas Zbinden, der nicht mehr und nicht weniger sucht, als den Sinn des Lebens, und der Kâzim davon überzeugen möchte, dass dieser Sinn sich am besten einem Spaziergänger erschließt.
"Spazieren zu gehen heisst: heraus zu finden, wer man ist, und zu mögen, was man dabei entdeckt."
Das Buch ist leicht, sowohl konzipiert, als auch geschrieben, dennoch hat es einen Tiefgang, der einen fast spielerisch gefangen nimmt. Große Leseempfehlung für diese außergewöhnliche Leseperle voller Weisheit!

Christoph Simon ist Schweizer Autor, Kabarettist und Poetry Slammer. Er ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018 und war 2014 und 2015 Schweizer Meister im Poetry Slam.
der bilgerverlag ist ein kleiner, feiner Schweizer Verlag, dem ich sehr herzlich für das Rezensionsexemplar danke! In diesem Verlag sind übrigens noch weitere Bücher von Christoph Simon erschienen.
Der Spaziergänger wird überdies im Frühjahr 2019 als Taschenbuch beim Schweizer Unionsverlag erscheinen.

(c) Susanne Becker

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso