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Buch der Woche - Karl Ove Knausgard, Sterben

„Aber Glück ist nicht mein Ziel, ist noch nie mein Ziel gewesen, was soll ich damit? Auch die Familie ist nicht mein Ziel. Wäre sie es gewesen und ich könnte ihr all meine Zeit und überschüssige Energie widmen, würden wir ein phantastisches Leben führen, davon bin ich überzeugt. Dann hätten wir irgendwo in Norwegen leben können und wären im Winter Ski und Schlittschuh gelaufen, mit Broten und einer Thermoskanne im Rucksack, wären im Sommer mit dem Boot hinausgefahren, hätten gebadet, gefischt, gecampt, hätten mit anderen Familien im Ausland Urlaub gemacht, hielten Ordnung zu Hause, hätten Zeit darauf verwendet, wohlschmeckende Mahlzeiten zuzubereiten und glücklich und fröhlich Zeit mit Freunden zu verbringen. Nun ja, das hört sich jetzt an wie eine Karikatur, aber ich sehe täglich Familien, die es schaffen, dass ihr Leben mit Kindern so funktioniert. Die Kinder sind sauber, ihre Kleider hübsch, die Eltern gut gelaunt, und wenn sie ausnahmsweise mal die Stimme erheben, schreien sie ihre Kinder niemals an wie Idioten. An den Wochenenden machen sie Ausflüge, im Sommer mieten sie Häuser in der Normandie, und ihr Kühlschrank ist niemals leer. ….Warum soll die Tatsache, dass ich Schriftsteller bin, mich von dieser Welt ausschließen? Warum soll der Umstand, dass ich schreibe, dazu führen, dass unsere Kinderwagen allesamt aussehen wie etwas, das wir auf einer Müllhalde gefunden haben? Warum soll mein Schreiben dafür verantwortlich sein, dass ich mit irren Augen und einem Gesicht, das zu einer grotesken Fratze der Frustration erstarrt ist, in den Kindergarten komme? Warum soll mein Schreiben dazu führen, dass die Kinder ganz auf ihren eigenen Willen setzen, egal, welche Konsequenzen das hat? Woher kommt all diese Wirrnis in unserem Leben?“

Ich lese gerade, nach Lieben,  mein zweites Knausgard – Buch Sterben. Es fehlen mir jetzt noch Träumen, Leben, und Spielen und ich kann sagen, das erleichtert mich. Jetzt, da ich ein Fan bin, möchte ich nicht, dass die Bücher von Knausgard allzu schnell durchgelesen sind. Zu sehr fühle ich mich in ihnen wohl. Dass ich ein Fan wurde, ich kann nicht sagen, warum das so ist. Ursprünglich gehörte ich zu den gefühlt dreizehn Menschen weltweit, die Knausgard auf gar keinen Fall lesen wollten, ihn für einen eitlen, aufgeblasenen, seinen Egoergüssen verschriebenen Jammerlappen und Narzisten hielt. Es könnte sein, dass meine Charakterisierung seiner Person gar nicht vollkommen daneben liegt, also zumindest einen Teil seines Charakters treffend umschreibt. Dennoch kann ich nicht aufhören, ihn zu lesen. (Ich würde mir mittlerweile sogar ein Foto von ihm neben den Schreibtisch hängen!! Das ist mir seit Hesse nicht mehr passiert.) Es ist ein wenig wie eine Sucht. Ist es große Literatur? Keine Ahnung! Es ist vielleicht noch nicht einmal Literatur. Es ist so voller Ich Ich Ich. Aber das gerade, was ich normalerweise nicht so gut ertragen kann, was man Schreibenden ja auch vorwirft, zum Beispiel, wenn man ihre Manuskripte ablehnt oder unreif findet, das entwickelt bei ihm diesen Sog: seine absolute Zentriertheit auf sich selbst und sein Universum, das derart authentisch und minutiös Seite um Seite beschrieben wird. Er schreckt auch nicht davor zurück, den Blick aus dem Küchenfenster seitenlang genau zu beschreiben, oder die Tasse Kaffee und wie er sie zubereitet, die Zigarette und wie er sie raucht. Landschaften, andere Menschen, Straßen, Geschäfte, Zugfahrten, Bücher die er liest, Bücher die er schreibt, sein Leben als Sohn, als Mann, als Vater, als Schriftsteller, seine Frau, seine Kinder (Irgendwo in einem Interview mit seiner Frau Linda las ich die Zeile "Ich habe den indiskretesten Mann der Welt geheiratet", sie könnte recht haben, kommt sie mir doch schon nach anderthalb Büchern ihres Mannes so vertraut vor, als wäre sie meine beste Freundin)  – alles wird so wahrhaftig wie möglich dargelegt, nackt vor den Leser gestellt mit jedem noch so unwichtig erscheinenden Detail. Das ist mutig, das ist auch schön. Man liest es und findet in dieser Menschlichkeit so ganz mühelos sich selbst wieder. Vielleicht ist das der Grund, dass ich die Bücher liebe? Ich finde mich selbst beim Lesen, ich erkenne mich, ich finde meine Gedanken wieder, meine täglichen Handlungen, auch meinen Blick aus dem Fenster. Ich erwische mich dabei, wie ich die Straße in Mitte hinunter gehe, und im Kopf wie Knausgard rede, mir jeden Sinneseindruck bewusst mache und ausformuliere. Das hat etwas beruhigendes und entschleunigendes. Es ist fast wie Meditation. 
Er macht menschliches Leben einer bestimmten Schicht im Europa des frühen 21. Jahrhunderts auf eine Weise publik, die mir als Leserin einen Schub gibt nach vorne aber auch in die Tiefe. Das liegt natürlich unter anderem daran, dass ich in einem ähnlichen Leben wie er stecke. Ich frage mich, ob seine Bücher auch interessant sind für Menschen, die vollkommen anders leben.

„Man weiß so wenig, und es existiert nicht. Man weiß zuviel, und es existiert nicht. Schreiben heißt, das Existierende aus dem Schatten dessen zu ziehen, was wir wissen. Darum geht es beim Schreiben. Nicht, was dort geschieht, nicht, welche Dinge sich dort ereignen, sondern es geht um das Dort an sich. Dort ist der Ort und das Ziel des Schreibens. Aber wie kommt man dorthin?“

Ich würde weiter gehen: Ich würde sagen, Dort ist das Ziel des Lebens, (auch des Lesens), des alles, was man tut und lässt, atmet und verdaut. Ein Leben lang geht es um die Frage: wie komme ich zu diesem Dort? Für jeden Menschen geht es doch eigentlich um diese Frage. Also für jeden Menschen dieser Knausgard-Schicht, wenn man weiß, was man morgen isst, dass man ein Dach über dem Kopf hat, regelmäßig ins Museum geht, sich mit Philosophie beschäftigt, sehr viel liest, sich manchmal fast langweilt in dieser selbstverständlichen Bequemlichkeit.
Knausgard nimmt uns in seinen Büchern auf seine persönliche und doch irgendwie allgemeingültige Reise Richtung Dort mit. Er zeigt uns all die Tiefen und Höhen der Suche, des Kampfes (so heißen seine Bücher ja eigentlich Mein Kampf), und manchmal kommt er an, beim Dort, und auch wir dürfen mit ihm zum Dort reisen. Er lädt uns ein. Als Leserin sind die Momente, die man mit ihm im Dort verbringt, größte Glücksmomente, weil sie einen selbst näher bringen an alles, worum es geht. Die Wahrhaftigkeit. Das eigene Dort.
Ist es Literatur? Das frage ich mich immer mal wieder und ich komme zu der Einsicht, dass das so vollkommen egal ist, wie es nur egal sein kann. Es ist die Reise zum Dort, der Kampf ums Dort und vielleicht ist Literatur ja alles, wo die Menschen schreibend um dieses Dort kämpfen, so kommt es mir vor, und dann ist es Literatur. Wenn Literatur etwas anderes ist, dann sind Knausgards Bücher keine Literatur. Vielleicht sind sie dann einfach Tagebücher?
Verrückterweise habe ich sein Buch „Lieben“ parallel zu dem Buch „Dein Name“ von Navid Kermani gelesen. Die beiden vermischten sich manchmal ein wenig in meinem Bewusstsein, aber dann auch in der Realität. Denn manchmal hatten sie die gleichen Themen, wie zum Beispiel Hölderlin, oder auch die Beschreibung des eigenen Lebens als Schreibender auf der Suche nach der Wahrheit, dem Dort, diese Suche schreibend so wahrhaftig und authentisch wie möglich darlegend, detailliert und minutiös. Mit sich selbst nicht gerade zart umgehend, auch die eigenen Schwächen dem Leser präsentierend, die Intimsphäre nicht aussparend.

Ich sehne mich als Lesende nach mehr solchen Büchern, in denen mir erzählt wird, was ist, minutiös, der Wahrheit verschrieben, dem Dort, und wie man hinkommt. Ich mag die Authentizität, die Wahrhaftigkeit, aber auch der philosophische Anspruch, den ich in solchen Bücher erkenne, gefällt mir. Allerdings wären Knausgards Bücher wohl kaum so gut, wenn er nicht auch wunderbar schreiben könnte. Kein Mensch könnte all diese Seiten von ihm lesen, wenn sie sich erzählerisch und sprachlich nicht auf einem hohen Niveau bewegten. Dann würde man das Buch irgendwann einfach genervt in die Ecke schmeissen. Stattdessen schleicht man um den Buchladen, um den Stapel ungelesener Bücher, und diskutiert mit sich selber genervt hin und her, unter welchen Umständen es doch okay wäre, sich den nächsten Knausgard zu kaufen.

© Susanne Becker

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