Direkt zum Hauptbereich

Buch der Woche - Juli Zeh, Treideln


"Ja, die Liste ist beeindruckend. Am beeindruckendsten ist vielleicht die Tatsache, dass es bei uns soviele staatstragende Schriftsteller gibt, dass seit 1959 jedes Semester einer die Poetikvorlesung abhalten kann und bis in alle Zukunft wird abhalten können, ohne dass uns jemals die Schriftsteller ausgehen werden. Irgendwo muss es eine geheime unterirdische Schriftstellerfabrik geben, in der ständig neue Schriftstellermodelle vom Band laufen, mit serienmäßig eingebauter Poetikfähigkeit und literarischer Bedeutsamkeitsgrantie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag."



CoverWer mir auf Twitter oder Facebook folgt, kennt bereits die Geschichte, dass ich heute vor einem Bioladen vom Fahrrad stieg und von einem wildfremden Mann angesprochen wurde "Sind Sie Juli Zeh?" Als ich antwortete: "Nein!" sah er mich konsterniert an und meinte: "Sind Sie sicher?" Ich glaube, er dachte, ich wolle unbedingt inkognito bleiben, aber ihm, hallo, sollte ich schon die Wahrheit sagen. "Kommen Sie, Sie sind es, oder?"
Ich: "Nein, wirklich nicht. Aber ich lese gerade ein Buch von ihr, ist das nicht lustig?"
Er entfernte sich kopfschüttelnd und meinte: "Das ist wirklich komisch. Ich könnte schwören, dass Sie Frau Zeh sind. Sie sehen genauso aus!"

Das hat einige witzige Aspekte. Der erste ist, dass ich überhaupt nicht wie Juli Zeh aussehe und vermutlich auch mindestens zwölf Jahre älter bin als sie (was, zugegeben, für meine Hautpflegeprodukte sprechen könnte, aber auch für den Grad der Verwirrtheit dieses reizenden Menschen, der dann zwar von mir abließ, aber mit jeder Geste deutlich machte, wie schade er es fand, dass ich meine wahre Identität vor ihm nicht preisgeben wollte.
Der andere witzige Aspekt ist, dass ich tatsächlich gerade ein Buch von ihr lese, "Treideln", in welchem sie unter anderem berichtet, dass sie sich selbst auf Photos so unähnlich sieht, dass sie bei Lesungen immer wieder am Eingang scheitert, weil sie keine Eintrittskarte hat, und man sie nicht als die Autorin erkennt.

Treideln ist das Buch, das aus ihrer Frankfurter Poetikvorlesung aus dem Sommersemester 2013 entstanden ist. Die Poetikdozentur gibt es seit 1959. SchriftstellerInnen wie Ingeborg Bachmann, Navid Kermani, Herta Müller, Heinrich Böll, Terézia Mora (deren Nicht sterben daraus entstand und zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehört!) haben den Lehrstuhl innegehabt und immer geht es, irgendwie, um die Poetik des jeweiligen Autors.
Juli Zehs Vorlesung hebt sich vielleicht insofern von allen anderen ab, als sie weder sich selbst, noch diese Dozentur, noch Poetik an und für sich wirklich ernst nimmt. An Poetik, also die Möglichkeit eines Autors, zu erklären, was er da warum in seinen Büchern gemacht hat, glaubt Zeh schlichtweg nicht. "Poetik ist das, was Autoren erfinden, wenn sie zu Poetikvorlesungen eingeladen werden. Erst war die Poetikvorlesung, dann die Poetik. Poetikvorlesungen besitzen den Glaubwürdigkeitsgehalt einer Teleshopping-Präsentation."
Daher ist das Buch sehr witzig zu lesen. Oft muss ich lachen, freue mich an ihren frechen Angriffen auf die oftmals sich selbst so abartig wichtig nehmende Welt der Literatur. Ich mag viele ihrer anderen Bücher und finde in Treideln wieder eine Seite, die ich immer an ihr mochte: frech, wortgewandt, superschnell im Hirn und eben witzig.
Grundsätzlich kann ich nicht genug bekommen von Büchern über das Schreiben, weshalb ich mir auch vorgenommen habe, ab jetzt so peu à peu alle erhältlichen Poetikvorlesungen zu verschlingen. Als nächstes wohl die von Kermani, denke ich.
Der Alltag der Schriftsteller interessiert mich genauso wie die Art, wie Geschichten zu ihnen kommen, wie sie sie einfangen und in Worte pressen, wie sie es sich selbst abringen, dieses stundenlange Alleinsein an einem Schreibtisch mit leeren Seiten und ungeordneten Worten. Poetik ist für mich schon genau das, was Juli Zeh letztendlich auch anbietet: Ein Einblick in die dem Werk zugrunde liegenden Prozesse, Gedanken und Arbeitsabläufe. Das ist vielschichtig und geht vom Strukturieren des Arbeitsalltags samt Altpapierbeseitigung bis zum Konzipieren eines Romans, der Rohfassung, dem Lektorieren derselben etc. pp. Poetik ist für mich unendlich füllbar.

In Treideln erfahren wir von ihrem Alltag genausoviel, wie von dem Prozess, mit dem sie beispielhaft einen Roman entwickeln würde, der in diesem Fall um den Protagonisten Treidel, einen Schriftsteller kreist.
Die Form ist eine lockere Briefsammlung, die sie an die Goethe-Universität "herzlichen Dank für die Einladung zur Frankfurter Poetikvorlesung. Ich fühle mich sehr geehrt. Trotzdem muss ich leider absagen." Freunde, ihren Mann, aber auch die Abfallberatung des Landkreises Mittelbrandenburg schreibt: "Papier stellt einen Wertstoff dar. Deshalb kostet die Entsorgung nichts. Daraus ergibt sich für mich eine einfache Frage: Warum zum Teufel wollen Sie mir keine zweite blaue Tonne geben?"
Das Buch enthält Erzählungen von Lesereisen, Auseinandersetzungen mit der Steuerberaterin darüber, was abgesetzt werden kann und was nicht und warum nicht, und wie vielleicht doch, und dazwischen immer wieder lange lange Strecken, in denen der Roman über den Schriftsteller Treidel weiter gesponnen wird.
Das Buch zeigt die Geworfenheit eines Autors in sein Werk und seinen Alltag, dass er all das genausowenig unter Kontrolle hat wie die Steuerberaterin oder wir, auch wenn großartige Werke zumindest mir manchmal suggerieren, dahinter stünde jemand, der das Leben voll durchschaut und im Griff habe. Die Zufälligkeit, wenn ein gutes Werk oder überhaupt ein Werk, entsteht, auch die Disziplin und harte Arbeit, die dazu gehören. Es ist uneitel und leicht und macht riesigen Spaß zu lesen.
Ach, sie netter Mann vor dem Bioladen heute, Sie wissen gar nicht, wie stolz ich bin, dass Sie mich mit Juli Zeh verwechselt haben. Danke. You made my day!

Das Buch ist übrigens beim tollen Schöffling&Co Verlag erschienen!

© Susanne Becker

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso