Direkt zum Hauptbereich

Leben - Ein Roman von David Wagner

"Zu leben ist ja viel komplizierter als tot zu sein."

Ich war in meinem ganzen Leben bislang nur ein einziges Mal im Krankenhaus und konnte daher sofort etwas anfangen mit dem Satz: "Wir Patienten sind einander morgenmantelbekannt."
Lesen auf der Terrasse
Im Alltag, dem normalen, gesunden, einigermaßen schmerzfreien, verwendet man eine Menge Energie darauf, sich abzugrenzen: gegen andere Menschen, gegen das Bewusstsein, dass der Körper irgendwie, naja, vergänglich ist, Ich möchte in meinem Leben nicht nochmal ins Krankenhaus, denn dort rückt man nicht nur seinen Mitmenschen im Morgenmantel für meinen Geschmack etwas nah, ihren Krankheitsgeschichten, ihren Körpern, dem eigenen Körper sowieso. Ich möchte nicht leiden, keine Schmerzen haben und der Gedanke an Schläuche, die aus meinem Körper ragen könnten, gruselt mich, genauso wie der Gedanke, irgendwann könnte von mir nichts mehr übrig sein, es könnte vollkommen egal gewesen sein, dass es mich überhaupt gegeben hat. "...denn das Nichts ist für ein Ich ja fast eine Beleidigung - der eigenen Eitelkeit tut die Einsicht weh, dass man selbst nicht wichtig genug
sein könnte, um auch nach dem Tod noch dazusein."
Nicht alle werden so krank, dass sie irgendwann ohne ein neues Organ nicht überleben könnten, dass sie Monate in einem Krankenhaus verbringen müssen - aber irgendwann wird doch jeder von uns in Berührung kommen mit dieser Welt von Krankenhausroutinen, Langeweile, Schmerzen, Leberwurst in Metalldöschen zum Abendbrot, Vergänglichkeit. Das macht den Reiz des Buches aus, aber auch, für mich zumindest, seine abstoßende Qualität. Als er auf der zweiten Seite Blut in seine Badewanne kotzt, fragte ich mich, ob ich das wirklich im Urlaub, oder davon abgesehen überhaupt, lesen müsse, und ob ich nicht lieber den Krimi von Fred Vargas rausholen sollte. Allerdings, und deshalb ließ ich die Fred Vargas stecken, wo sie war, wird diese abstoßende Wirkung auf praktisch jeder Seite aufgehoben durch zwei Tatsachen: 1. David Wagner schreibt so derart lakonisch, humorvoll und ohne jede Spur von Pathos über die Geschichte einer schweren Krankheit, eine Lebertransplantation, monatelange Aufenthalte in einer Klinik und der Reha, dass er schon allein dafür den Preis der Leipziger Buchmesse verdient hat. Aber da ist auch noch 2. David Wagner schreibt nicht nur inhaltlich richtig gut, sondern auch sprachlich ist es ein Genuss, dieses Buch zu lesen. Der Text fließt dahin und man wird hinein gesogen, bevor man es merkt, Gegenwehr zwecklos. Auf jeder zweiten Seite enthält er Formulierungen, von denen ich mir wünschte, sie wären mir eingefallen. "Es gibt Leberwurst zum Abendbrot. Ein rundes Metalldöschen mit Foliendeckel liegt auf dem Tablett, ausgerechnet Leberwurst ... Fünf oder sechs Tage nach einer Lebertransplantation, ist da Leberwurst nicht ein wenig rücksichtslos?"
Als er erfährt, dass er eine neue Leber braucht, geht auch gleich der Untersuchungsmarathon los, mit dem geprüft wird, ob sein Körper eine solche überhaupt überstehen könnte: "Ich erinnre mich an den Urologen, der meine Prostata untersuchte, digital-rektal, zwei schöne Wörter für Finger im Arsch. Vom urologischen Standpunkt spreche nichts gegen eine Transplantation, sagte er, außerdem erfuhr ich, dass ich Bilderbuchhoden habe. Wie toll."

Der Protagonist hat eine kleine Tochter. Wenn er sich fragt, warum er dieses ganzes Prozedere, diese ganzen Schmerzen und Umstände eigentlich über sich ergehen lässt, anstatt sich einer gewissen Lebensmüdigkeit zu ergeben, kommt er immer wieder auf sie zurück. Damit er noch eine Weile für sie da sein kann. Denn es ist für Kinder doch immer blöd, wenn ein Elternteil stirbt. Da seine Mutter an Krebs starb, als er zwölf war, weiß er, wovon er spricht.,
Das Buch ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum man leben will, warum im größten Elend doch immer noch der Wille da ist, weiter zu machen. Seine Antwort darauf ist seine Antwort. Jeder kann diese Frage auf seine eigene Weise beantworten. Wie toll!

Wie toll auch, dass David Wagner noch ein paar andere Bücher geschrieben hat. Meine nachtblaue HoseVier ÄpfelWelche Farbe hat Berlin werde ich lesen.

© Susanne Becker

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

100 bemerkenswerte Bücher - Die New York Times Liste 2013

Die Zeit der Buchlisten ist wieder angebrochen und ich bin wirklich froh darüber, weil, wenn ich die mittlerweile 45 Bücher gelesen habe, die sich um mein Bett herum und in meinem Flur stapeln, Hallo?, dann weiß ich echt nicht, was ich als nächstes lesen soll. Also ist es gut, sich zu informieren und vorzubereiten. Außerdem sind die Bücher nicht die gleichen Bücher, die ich im letzten Jahr hier  erwähnt hatte. Manche sind die gleichen, aber zehn davon habe ich gelesen, ich habe auch andere gelesen (da fällt mir ein, dass ich in den nächsten Tagen, wenn ich dazu komme, ja mal eine Liste der Bücher erstellen könnte, die ich 2013 gelesen habe, man kann ja mal angeben, das tun andere auch, manche richtig oft, ständig, so dass es unangenehm wird und wenn es bei mir irgendwann so ist, möchte ich nicht, dass Ihr es mir sagt, o.k.?),  und natürlich sind neue hinzugekommen. Ich habe Freunde, die mir Bücher unaufgefordert schicken, schenken oder leihen. Ich habe Freunde, die mir Bücher aufgeford

Und keiner spricht darüber von Patricia Lockwood

"There is still a real life to be lived, there are still real things to be done." No one is ever talking about this von Patricia Lockwood wird unter dem Namen:  Und keiner spricht darüber, übersetzt von Anne-Kristin Mittag , die auch die Übersetzerin von Ocean Vuong ist, am 8. März 2022 bei btb erscheinen. Gestern tauchte es in meiner Liste der Favoriten 2021 auf, aber ich möchte mehr darüber sagen. Denn es ist für mich das beste Buch, das ich im vergangenen Jahr gelesen habe und es ist mir nur durch Zufall in die Finger gefallen, als ich im Ebert und Weber Buchladen  meines Vertrauens nach Büchern suchte, die ich meiner Tochter schenken könnte. Das Cover sprach mich an. Die Buchhändlerin empfahl es. So simpel ist es manchmal. Dann natürlich dieser Satz, gleich auf der ersten Seite:  "Why did the portal feel so private, when you only entered it when you needed to be everywhere?" Dieser Widerspruch, dass die Leute sich nackig machen im Netz, das im Buch immer &q

Writing at the Fundacion Valparaiso in Mojacar, Spain

„…and you too have come into the world to do this, to go easy, to be filled with light, and to shine.“ Mary Oliver I am home from my first writing residency with other artists. In Herekeke , three years ago, I was alone with Miss Lilly and my endlessly talkative mind. There were also the mesa, the sunsets, the New Mexico sky, the silence and wonderful Peggy Chan, who came by once a day. She offers this perfect place for artists, and I will be forever grateful to her. The conversations we had, resonate until today within me. It was the most fantastic time, I was given there, and the more my time in Spain approached, I pondered second thoughts: Should I go? Could I have a time like in Herekeke somewhere else, with other people? It seemed unlikely. When I left the airport in Almeria with my rental car, I was stunned to find, that the andalusian landscape is so much like New Mexico. Even better, because, it has an ocean too. I drove to Mojacar and to the FundacionValparaiso